Montag, 13. September 2010

Nächsten(l/h)iebe statt Verständnisgrütze?




Die Nächstenliebe ist das immer so eine Sache ... Natürlich kann man sie in bestimmten Fällen sehr einfach üben, etwa bei Familie und Freund. Bekannte und Kollegen, die nicht zu den sympathischsten Zeitgenossen gehören, anständig zu behandeln, ihnen hin und wieder gar einen Gefallen erweisen, überfordert nur in seltenen Fällen. Auch "global" kann man Nächstenliebe wohlfeil praktizieren, vor allem, wenn der Misereor-Klingelbeutel herumgereicht wird, man überdies "fairen" Kaffee schluckt und die passende Schokolade schlotzt. In der Regel ist das alles kein Problem. Schwieriger wird's, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die uns eindeutig nicht gewogen sind und dies in Wort und Tat bestätigen. Aber auch da finden sich Wege.


Nächstenliebe wird für mich zum Minenfeld, wenn "die Armen" nicht in der dritten Welt oder irgendeinem Katastrophengebiet sitzen, sondern quasi vor der eigenen Haustür: Penner, Tippelbrüder, Sozialhilfe-Kandidaten. Da noch ein offenes Herz (und eine offene Geldbörse) zu haben, fällt mir zunehmen schwer. Dazu sind gewisse Erfahrungen zu ernüchternd ...


... etwa bei den drei Pennern, die sich neulich morgens um Acht an einem Kiosk mit Jägermeisterfläschchen eindeckten und gleich danach bei mir Kippen schnorren wollten. Die hätten sie sich auch gleich beim Kiosk besorgen können, notfalls unter Verzicht auf die Kräuterschnapsdröhnung.


... etwa bei herzerweichendem Jammer, man benötige dringend eine Fahrkarte in irgendein Umlandkaff, doch leider fehle es noch ein wenig am nötigen Kleingeld. Mehr als einmal habe ich die Erfahrung gemacht, daß das Interesse an Fahrkarten rasch gegen Null tendiert, sobald man anbietet, gemeinsam zum nächsten Automaten zu gehen und den fehlenden Betrag zu ergänzen.


... etwa dann, wenn mir wieder das Märlein vom bitteren Hunger aufgetischt wird, der sich schlagartig verflüchtigt, sobald man den Vorschlag unterbreitet, zwecks Ankauf belegter Brötchen die nächstliegende Bäckerei-Filiale anzusteuern.


Manchmal frage ich mich zudem, warum in meinem Stadtteil, der eine hohe Hartz-Quote hat, es immer die gleichen "bürgerlichen" Zeitgenossen sind, die neben dem Beruf auch noch soziales Engagement üben, derweil sich fast nie jemand von denen meldet, die den ganzen Tag rumhängen und Party machen, Lidl sei Dank. Klar, ich weiß, daß man vor lauter Depression den fett gefüllten Einkaufswagen nur bis zur eigenen Haustür schieben kann, Zurückbringen liegt da nicht mehr drin. 


Beim Feierabendbierchen bekomme ich es hin und wieder mit einem Arbeitslosen zu tun, der gerne "tankt" und seit geraumer Zeit obdachlos ist. Nennen wir ihn mal Walter. Walter mit der großen Klappe. Als er mir zum ersten Mal begegnet ist, habe ich ihn aus dem Kiosk geschmissen - nun gut, es war Ladenschluß, er hat genervt und dem Inhaber dieses etablissements (andernorts würde man genauer von "Trinkhalle" sprechen) fehlt es manchmal an Durchsetzungsvermögen. Wenn Walter danach auftauchte, ging er mir zumeist wieder auf den Keks, erst recht, seit er obdachlos geworden war. Schuld waren immer irgendwie irgendwelche anderen. Ich konnte und kann das nicht mehr hören! Und ich habe auch keine Lust, nach Feierabend mein Bier neben einem ungepflegten Stinkmorchel, der mit die Ohren ablabert, durch die Kehle zu jagen. Trotzdem ist mir Walters Los nicht egal, denn einerseits traue ich dem Mann ein gewisses Potential zu, aus der Gosse heraus zu kommen, und andererseits mag das Leben auf der Parkbank im Sommer noch halbwegs angenehm sein ... im Winter sieht die Sache anders aus, aber manch einer macht selbst bei Eiseskälte lieber Platte, ehe er sich der Hausordnung einer städtischen Notunterkunft unterwirft (wobei das einzige, was an diesen Hausordnungen in der Regel wahrscheinlich konsequent durchgesetzt wird, die Öffnungszeiten sind).


Was nun tun mit Walter? Neulich habe ich mich für die radikale Methode entschieden. Sprich: Ich habe ihn nach Strich und Faden fertig und zur Sau gemacht, sooft er mir seither über den Weg lief. Ich habe ihm gesagt, er solle endlich seinen A.... hochkriegen. Ich habe ihm einen Papierfetzen um die Ohren gehauen, den er als "Bewerbung" rausgeschickt hatte. Ich habe ihm eingebleut, er solle drei Bier weniger saufen und sich statt dessen einen Fünf-Euro-Haarschnitt gönnen. Ich habe ihm aber auch - wiederum unter fiesesten Beleidigungen - Dreifuchzig Euro angeboten: Für Rasierschaum (99 Cent), Duschgel (99 Cent) und Einweg-Rasierklingen (1,49 Euro). Offenkundig bin ich ihm so sehr auf die Pelle gerückt, daß er dieses Angebot nicht mehr anzunehmen wagte. Freilich scheint er bei der Caritas-Anlaufstelle für Obdachlose aufgekreuzt zu sein, die ich ihm empfohlen hatte, weil man dort auch Wäsche bzw. sich selbst waschen kann.


Und siehe da ... als er mir zuletzt begegnete, war er plötzlich rasiert und gewaschen. Und er würde eine Unterkunft bekommen und irgendeine Art Zwei-Euro-Job. Was dran ist, wird sich zeigen müssen. Ich traue der Sache noch nicht recht. Wenn er demnächst wieder als Penner aufkreuzt, werde ich ihn wieder fertig machen.


Der bisherige Lauf der Dinge legt jedenfalls den Verdacht nahe, daß hier anstelle von Einfühlungs- und Verständnisgrütze eine rabiate Tour die womöglich bessere Variante der Nächsten(l/h)iebe darstellt. Vielleicht werde ich das auch bei anderen Fällen künftig anwenden.

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